Ulm News, 10.09.2024 13:08
Geiselnehmer vor Ulmer Landgericht geständig
Prozessauftakt am Montagmorgen vor dem Ulmer Landgericht: Es wird die Geiselnahme Ende Januar in der Ulmer Starbucks-Filiale verhandelt, bei der sich der 44-jährige Täter durch die Polizei offenbar erschießen lassen wollte. Der Angeklagte ist umfassend geständig. Es sind 5 Prozesstage anberaumt mit dem Urteil am 10. Oktober 2024.
Als der 44-jährige Angeklagte in den Gerichtssaal geführt wird, sind die körperlichen Folgen für den Mann deutlich sichtbar. Durch Polizeischüsse wurde ihm damals bei der Geiselnahme von 12 Personen in einem Sturbacks-Café in Ulm ein Großteil des Unterkiefers weggeschossen. Bisher ist das Gesicht nur zum Teil rekonstruiert. Das Sprechen fällt ihm schwer, der Vorsitzende Richter muss immer wieder nachfragen, weil einzelne Worte nur undeutlich ausgesprochen werden können.
Immer wieder greift er Angeklagte zu einem Becher Wasser, um den Mund anzufeuchten. Sofort danach muss er herauslaufendes Wasser mit einem Geschirrtuch auffangen und abwischen. Die Anklage der Staatsanwaltschaft lautet unter anderem auf Geiselnahme, dazu kommt unter anderem Nötigung.
Stefano B. soll in einem psychischen Ausnahmezustand gehandelt haben, daher fordert die Staatsanwaltschaft keine Haft, sondern die dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik. Nach den Ermittlungen hat der 44-Jährige sich am 26. Januar deises Jahres von seinem Wohnort Iserlohn aus in Richtung Süden aufgemacht, durch eine Geiselnahme wollte er Polizisten zwingen, den finalen Rettungsschuss abzufeuern und ihn damit zu töten.
Der Tathergang: Erst unterwegs im Zug hatte er das Schild „Ulm“ gelesen, als Soldat erinnerte er sich daran, dass es dort ein Bundeswehrkrankenhaus gibt und deswegen ist er in die Stadt gefahren. In einer Reisetasche hatte er die Attrappen einer Pistole und des Sturmgewehrs HK 416 sowie mehrere Messer. Nachdem der sein Auto in der Tiefgarage Sedelhof geparkt hatte, ging er in Ulm spazieren. Zufällig sieht er das Café Starbucks am Ulmer Münsterplatz, bestellt dort einen Kaffee und setzt sich hin. Nach einer halben Stunde zieht er dann die Waffen aus der Tasche und nimmt zwölf Geiseln, von denen er dann zwei mit einem handgeschriebenen Zettel wegschickte, damit sie die Polizei alarmieren. Seine nun noch zehn Geiseln sammelte er vor den Toiletten, so dass sie von außen nicht zu sehen waren. Mehrere weinende Geiseln schickte er schnell ebenfalls nach draußen, darunter auch zwei 13 und 14 Jahre alte Mädchen. Geiseln müssen mit Möbeln den nach hinten führenden Notausgang verbarrikadieren. Immer wieder entlässt er Geiseln, bis er mit einer einzigen Geisel im Laden ist. Mit dieser Geisel geht er dann zwei Stunden nach seinem Kaffee vor die Türe, der Frau hält er seine täuschend echt aussehende Pistolen-Attrappe in den Nacken.
Von der Seite feuert dann ein SEK-Beamter mehrere Schüsse auf den Geiselnehmer, trifft im Gesicht und in den Oberarm, Zeugen hören drei Schussgeräusche. Der Geiselnehmer sinkt zu Boden, die Geisel kann sich in die Arme eines wartenden Polizisten flüchten. Die Schüsse der Polizei waren so präzise, dass der Geiselnehmer kampfunfähig zu Boden geht. Er wird im Bundeswehrkrankenhaus mehrfach operiert, kommt dann in ein Justizkrankenhaus.
Mittlerweile sitzt er in Untersuchungshaft.
Während des Geständnisses sitzt die Frau, die bis zum Schluss als Geisel leiden musste, dem Angeklagten schräg gegenüber. Als Nebenklägerin möchte sie Schadenersatz für die psychischen Schäden, die sie erlitten hat. Wie sehr die junge Frau bis heute leidet, zeigt sich beim Verlesen der Anklageschrift. Der Blick nach unten, immer wieder wischt sie sich die Augen. Als im Verlauf des Tages die Aufnahmen der Überwachungskamera aus dem Café gezeigt werden, verlässt sie vorher den Saal und kehrt erst danach wieder zurück. Offenbar ist es zu viel Erinnerung an diesen Abend für sie. Auch sonst blickt sie den Angeklagten nur sehr selten an, meistens ist der Blick leer und in Richtung Richter, Ausgangstüre oder Fußboden gerichtet. Zwei weitere Geiseln haben sich ebenfalls als Nebenklägerinnen dem Verfahren angeschlossen, die 13 und 14 Jahre alten Mädchen haben ebenfalls bis heute psychisch unter dem Erlebten zu leiden. Sie werden über den Opferschutzbund „Der Weiße Ring“ vom Rechtsanwalt Jens Burgard vertreten.
Der nicht vorbestrafte Stefano B. räumt die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft vollumfänglich ein. Lediglich zum Zeitpunkt des Tatentschlusses behauptet er, dass er sich erst beim Anblick des Starbucks in Ulm zur Geiselnahme entschlossen hat. Bei den Geiseln, die er genommen hat, möchte er sich nach den Worten seines Verteidigers Thorsten Storp in aller Form entschuldigen. Er weiss erst jetzt, dass so eine Geiselnahme für die Opfer psychische Folgen hat.
Der Ex-Soldat habe in einem länger andauernden Prozess seinen Lebensmut verloren. Auf Befragung des Richters offenbarte Stefano B., dass er in Iserlohn mit mehreren Geschwistern aufgewachsen ist und nach einer Ausbildung zum Industriemechaniker und anschließender Insolvenz seines Arbeitgebers als Zeitsoldat zur Bundeswehr ging. Mehrfach war er in Auslandseinsätzen und wurde da zum Augenzeugen, wie durch einen Attentäter einem Zivilisten tödlich in den Kopf geschossen wurde. Das führte bei ihm zu einer Sinn-Krise, die sich auch in Wut und Angst äußerte. Jahre später nahm er auch psychologische Hilfe in Anspruch. Er wurde arbeitsunfähig, lebte aber weiterhin in der Kaserne. Alkohol nahm ihm die Anspannung, doch als er heiratete und seinem Kinderwunsch nachgehen wollte, hörte er mit dem Alkohol auf. Lärmempfindlichkeit war die Folge, so sehr, dass er seinen schreienden Sohn zur Schwiegermutter brachte, da er selbst Angst bekam, seinem Sohn etwas anzutun.
Emotional wurde es in einer Zeugenbefragung. Als der Abschnittsleiter „Tatort“ der Polizei die Abläufe vor dem Café beschrieben hatte, fragte vor Gericht die letzte Geisel, warum es so lange dauerte bis zu ihrer Befreiung. Der erfahrene Streifenbeamte hatte das Gebäude umstellen lassen, selbst von gegenüber gute Sicht durch die Schaufensterscheiben. Er sorgte für Ruhe ringsherum, stellte eine sogenannte „statische Lage“ her, um den Geiselnehmer von Affekthandlungen abzuhalten. Auch wollte er seine Kollegen nicht schießen lassen, da er sich nicht sicher war, dass sie mit ihren einfachen Dienstwaffen gut genug zielen können, um die Geisel nicht zu gefährden. Nachdem das Spezialeinsatzkommando der Polizei eingetroffen war und diese Beamte auch für den Geiselnehmer erkennbar vor dem Café waren, kam er nach draußen.
So, wie es auch die Polizisten vermutet haben, dass der Geiselnehmer einen „Suicide by cop“, also einen durch Polizisten vollenden Selbstmord, begehen wollte. Mit ihren Präzisionswaffen schossen die Polizisten ohne die Geisel zu verletzen. Der Polizist äußerte viel Verständnis für die unter Tränen der Verzweiflung vorgetragenen Vorwürfe, warum es nicht schneller ging, doch sagte auch „Wenn meine Leute geschossen hätten, weiss ich nicht, ob sie noch hier sitzen würden.“ Und er bot der Geisel an, dass er sich mit ihr eine Stunde auf einen Kaffee zusammensetzt, um ihr zu erklären, was in diesem Moment auch im Kopf des Polizisten ablief, der die Verantwortung für das Leben der Geisel und der eingesetzten Polizisten trug.
Angesetzt in dem Prozess sind noch vier weitere Verhandlungstage bis in den Oktober hinein, bei denen zwanzig Zeugen gehört werden sollen. Ein psychatrischer Sachverständiger ist an allen Verhandlungstagen anwesend. Da der Angeklagte gestanden hat und auch mit einer psychiatrischen Behandlung einverstanden ist, gehen Prozessbeobachter davon aus, dass das Verfahren abgekürzt werden kann.
Text/Fotos: Thomas Heckmann
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