Ulm News, 30.09.2014 15:37
„Wir können alles – außer gut sehen“
Zum 33. Mal lud der Neu-Ulmer Landrat blinde und sehbehinderte Menschen zu einem gemeinsamen Ausflug ein – Diesmal ging’s nach Holzschwang ins Bauernmuseum.
Die Stadt will alles tun, um Sie vollkommen am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen.“ Dieses Versprechen gab Neu-Ulms 2. Bürgermeister Albert Obert beim diesjährigen Treffen der Blinden und Sehbehinderten in Holzschwang. Fabian Sattich, Bezirksgruppenleiter des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes, hat es gut gehört, denn hören kann er, aber nicht mehr sehen. Gemeinsam mit seiner Frau steht Sattich vor einer Bindemaschine im privaten Bauernmuseum von Christian Bühler in Holzschwang. „Damit hat man früher Büschel gemacht“, weiß er sofort. Das brauchte man ihm nicht erst zu erklären, denn er ist auf einem kleinen Bauernhof bei Pöttmes im heutigen Landkreis Aichach-Friedberg aufgewachsen. Damals konnte Fabian Sattich noch sehen, doch später verlor er nach und nach sein Augenlicht. Mit 50 musste er seine gute Stellung als Leiter der Auftragsterminsteuerung bei MAN in Augsburg aufgeben, heute im Alter von bald 70 Jahren, sieht er gar nichts mehr. Er leidet an einer Netzhautdegeneration. Die Freude am Leben hat sich Sattich dennoch nicht nehmen lassen. Das sieht man ihm an, auch wenn man ihm nur einmal im Jahr begegnet.
Nun war es wieder so weit: Blinden- und Sehbehindertentreffen auf Einladung des Neu-Ulmer Landrats – der Tag, auf den sich Fabian Sattich Jahr für Jahr freut wie auf Weihnachten. Für den neuen Landrat Thorsten Freudenberger war es keine Frage, dass er die Tradition weiterführt, die sein Vorvorgänger Franz Josef Schick 1982, im „Jahr der Behinderten“, begründet hatte und Freudenbergers direkter Vorgänger Erich Josef Geßner alljährlich fortsetzte. Zum 33. Mal fand der Ausflug mit den augenkranken Menschen heuer statt. „Er ist noch nie in all den Jahren ausgefallen“, sagte Roland Bürzle bei der Begrüßung im evangelischen Gotteshaus von Holzschwang. Bürzle vertrat Landrat Thorsten Freudenberger, bis dieser beim abschließenden Mittagessen im Holzschwanger Gasthof „Zum Hirsch“ von einem anderen Termin zu der Gruppe stieß.
In der Holzschwanger Sankt-Georgskirche hatte der emeritierte Pfarrer Ernst Burmann aus Elchingen mit den Ausflugsteilnehmerinnen und -teilnehmern eine eindrucksvolle Morgenandacht gefeiert. Das TV-bekannte „Superhirn“ deklamierte auswendig mehrere Strophen aus Schillers „Lied von der Glocke“ und den Gruß der Erzengel aus Goethes Faust. Burmanns Predigt spann sich um den Psalm 68, Vers 20: „Gepriesen sei der Herr, Tag für Tag! / Gott trägt uns, er ist unsre Hilfe.“ Der Glaube prägte früher – weit mehr als heute – das Leben auf dem Land. Der Rest war Arbeit. Welcher Gerätschaften und Werkzeuge sich die Bauersleute dabei bedienten, das zeigt der Holzschwanger Christian Bühler in seinem Stadel, den er zum gepflegten und ungemein interessanten privaten Museum ausgebaut hat. Von Mai bis Oktober öffnet er es jeden ersten Sontag im Monat für die Öffentlichkeit. Für seine blinden und sehbehinderten Besucher macht er eine Ausnahme und gab zusammen mit Freunden eine Exklusiv-Führung. Anders als in den großen Museen dieser Welt durften die Ausstellungsstücke dabei auch angefasst und abgetastet werden. „Da, das können Sie anlangen“, sagte Inhaber Christian Bühler immer wieder zwischen seinen mündlichen Erläuterungen. Seit mehr als 20 Jahren trägt der leidenschaftliche Sammler Antiquitäten aus dem dörflich-bäuerlichen Leben vor den Weltkriegen zusammen. 1997 gründete er das Museum auf seinem Anwesen. Mittlerweile reiht sich auf 600 Quadratmetern Exponat an Exponat: Dreschflegel, eine Kutsche, der Feuerwehranhänger der Freiwilligen Feuerwehr Holzschwang aus der Zeit um 1900, eine Sä-, eine Strick-, eine Most- und eine Waschmachine, die erste, mit Holz oder Kohle beheizbare von 1949. Christian Bühler führte auch eine spezielle Mausefalle vor und leitete dabei das Sprichwort her: „Da beißt die Maus keinen Faden ab.“ Besonders stolz ist der eingefleischte Holzschwanger, dass er altes Schulmobiliar aus seiner früheren Schule an Land ziehen konnte. 1938 wurde Christian Bühler eingeschult; da war der Inhalt eines alten Schulranzens, den er vor einigen Jahren aus einem Nachlass erhielt, bereits 17 Jahre alt. Auf das Jahr 1921 datieren die Aufzeichnungen in schönster Sütterlin-Schrift auf dem Schreibpapier in dem Lederranzen, der außerdem eine Schiefertafel und einen Griffel enthält. Sylvia Hofmeister schrieb mit beiden Utensilien ganz exakt ihren Vornamen, obwohl sie stark sehbehindert ist. Auch Tatjana Held war fasziniert von der alten Schuleinrichtung. Sie nahm sogleich in einer Bank Platz und ließ sich fotografieren. Die 18-Jährige, deren Mutter Doris sie begleitete, drückt – wie man sprichwörtlich sagt – montags bis freitags selbst noch die Schulbank. Am Sankt-Hildegard-Gymnasium in Ulm geht die stark sehbehinderte junge Frau in die elfte Klasse der Regelschule. Zuvor hatte sie an der Realschule des katholischen Schulzentrums Sankt Hildegard die Mittlere Reife gemacht. Nun will sie das Abitur draufpacken, um danach vielleicht zu studieren.
„Wir können alles - außer gut sehen“: Angesichts der erstaunlichen Fähigkeiten, welche die Blinden und Sehbehinderten ihr Leben auch ohne beziehungsweise mit nur wenig Sehkraft meistern lassen, könnte man Fabian Sattich diesen abgewandelten Satz aus einer Imagewerbung des Landes Baden-Württemberg glatt als Motto für die weitere Verbandsarbeit empfehlen.








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