Ulm News, 07.11.2024 17:13
Gegen Bullshit und Filterblasen in den sozialen Netwerken
Strategien gegen Bullshit und Filterblasen: Wie soziale Netzwerke spalten und was wir dagegen tun können, war Thema des Nebelempfangs von Marcel Emmerich.
Er soll zu einer Institution werden, die aus Ulm so wenig wegzudenken ist wie das Münster und der Nebel: Der Nebelempfang des Grünen-Bundestagsabgeordneten Marcel Emmerich. Zum dritten Mal hatte Emmerich am Sonntag dazu eingeladen. Wieder waren zahlreiche Gäste der Einladung ins Stadthaus gefolgt, um dort mehr über ein aktuelles, politisches Thema zu erfahren, heißt es in der Mitteilung des Grünen-Abgfeordneten.
Im vergangenen Jahr stand mit dem Gast Carlo Masala das Thema Verteidigungspolitik im Mittelpunkt, dieses Jahr ging es um Bedrohungen der Demokratie von innen und außen. "TikTok, X und Demokratie: Sind die sozialen Netzwerke noch zu retten?" war die Leitfrage des Abends.
Mit Professor Dr. Christian Montag hatte Emmerich einen renommierten Wissenschaftler eingeladen: Montag forscht und lehrt an der Uni Ulm und hat unter anderem das Buch "Du gehörst uns - Die psychologischen Strategien von Facebook, TikTok, Snapchat & Co" geschrieben. Beim Nebelempfang sprach er darüber, wie das Datengeschäftsmodell der sozialen Netzwerke zu einer Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft beiträgt.
Welche Auswirkungen Polarisierung haben könne, zeige aktuell der Blick auf die US-Wahl, sagte Emmerich zuvor in seiner Rede: "Da sehen wir, was passiert, wenn politische Kräfte eben nicht mehr konstruktiv zusammenarbeiten." Deutschland sei zwar noch nicht gespalten, aber auf dem Weg dorthin zitierte er den Soziologen Steffen Mau ("Triggerpunkte"). "Dagegen muss man anarbeiten." Als Obmann im Innenausschuss erlebe er jede Woche, dass die Demokratie von innen und außen angegriffen werde. Desinformationen grassieren, Manipulation, Hasskriminalität und Straftaten im Netz nähmen zu. Manchmal frage man sich in politischen Diskussionen: "Wo kommt eigentlich dieser ganze Bullshit her?"
Nicht selten, wenn man mit hanebüchenen Aussagen konfrontiert werde, stammten diese Desinformationen direkt aus Moskau. Emmerich verwies auf die Recherchen zur "Social Design Agency", kurz SDA: Im September hatten Recherchen des WDR, NDR und der SZ gezeigt, dass diese kremlnahe Agentur gezielt Narrative entwickelt und in Netzwerken verbreitet, mit dem Ziel, den Diskurs in Deutschland zu beeinflussen und den Menschen hierzulande Angst vor der Zukunft zu machen. Ohne "herumopfern" zu wollen nannte Emmerich das Beispiel, dass die Grünen - aber auch der liberale Teil der Union - von der SDA als Feind benannt werden, während die AfD begünstigt werden solle. "Das ist eine Realität, mit der wir es zu tun haben, die aber in öffentlichen Diskussionen viel zu wenig ernstgenommen wird." Unter anderem durch diese gezielten Kampagnen habe man immer öfter in Gesprächen im Familien- und Bekanntenkreis den Eindruck, nicht mehr auf der Grundlage von Fakten miteinander zu sprechen, stellte Emmerich fest und leitete damit über zum Vortrag von Christian Montag, in dem es um die Rolle der sozialen Netzwerke in dieser Entwicklung ging.
Montag erklärte, dass mehr als 5 Milliarden Menschen soziale Netzwerke nutzen - mehr als 3 Milliarden allein die Netzwerke, die zum Meta-Konzern gehören (Facebook, Instagram, Whatsapp). "Das ist mehr als ein Drittel der Menschheit." Warum soziale Medien ein Erfolgsmodell sind, erklärte der Professor für molekulare Psychologie anhand des Nutzen-Gratifikationsmodells: "Jede Technologie kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie Grundbedürfnisse erfüllt." Soziale Netzwerke bedienten den Wunsch nach sozialer Verbindung, Spaß und Nützlichkeit. Um möglichst viele Daten über Nutzer*innen sammeln zu können, seien lange Nutzungszeiten für die Netzwerke entscheidend, sagte Montag. Um das zu erreichen, arbeiteten die Medien beispielsweise mit Likes als Belohnungssystem, Push-Benachrichtigungen, die Aufmerksamkeit erregen, oder "Nudging" - als Beispiel hierfür nannte er die Häkchen bei Whatsapp, die anzeigen, ob eine Nachricht gelesen wurde und damit sozialen Druck aufbauen können.
Mit den gesammelten Daten können die Netzwerke laut Montag sehr genaue Vorhersagen treffen und diese nutzen. Anhand einer Studie aus den Niederlanden belegte Montag, dass beispielsweise abgestimmte Wahlwerbe-Clips für extrovertierte oder introvertierte Personen in der jeweiligen Gruppe deutlich mehr Zustimmung hervorruft als ein Kontroll-Clip ohne Zuschnitt auf das jeweilige Persönlichkeitsmerkmal. Montag zeigte auch, dass insbesondere negative und stark emotionalisierende Inhalte häufiger geteilt würden. Fake News sind auch deshalb erfolgreich, weil die dem Business-Case dieser Industrie nicht unbedingt widersprechen", fasste Montag zusammen.
Zur Frage, wer ein besseres Urteilsvermögen im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt von Nachrichten hat, verwies Montag auf Ergebnisse, dass "eine zentrale Variable interpersonelles Vertrauen sein kann". Wer also kein Vertrauen mehr in die Gesellschaft habe, mache sich auch nicht die Mühe, die Dinge zu hinterfragen. Ein Effekt, der durch Filterblasen und Echokammern möglicherweise noch verstärkt werde. Montag plädierte deshalb zum einen für einen heterogenen Nachrichtenkonsum: "Wenn sie eine Fake News online sehen und sich abends denken: 'Warum spricht da Marietta Slomka nicht drüber', dann fängt das vielleicht an in einem zu arbeiten."
Zum anderen sprach er sich als Alternative zu den aktuellen sozialen Medien für eine Abkehr vom Datengeschäftsmodell aus - beispielsweise durch eine Art öffentlich-rechtliche soziale Medien, denen eine andere Finanzierung zugrunde läge. "Wir müssen über Alternativen nachdenken."
In der Diskussion ging es unter anderem um die Möglichkeiten, den digitalen Raum zu regulieren und die Nutzungsfreundlichkeit von alternativen, dezentralen Netzwerken wie Mastodon. Die Frage, ob die sozialen Netzwerke noch zu retten sind, sei zwar nicht abschließend geklärt worden, stellte Moderatorin Dana Hoffmann zum Ende der Diskussion fest - aber die Gäste konnten dennoch viele neue Erkenntnisse aus dem Abend mitnehmen.
Wie in den vergangenen Jahren gab es zum Schluss noch eine Spendenaktion für Schoko-Nikoläuse für den Tafelladen. Dass diese pünktlich zum 6. Dezember verteilt werden können und die Kinder dort nicht warten müssen, bis die Supermärkte unverkaufte Ware zur Tafel bringen, sei ihm und dem Tafelladen-Team ein großes Anliegen, sagte Stefan Brandt, Leiter Soziale Dienste des DRK. Die rund 150 Gäste des Nebelempfangs spendeten 537,40 Euro. "Das ist ein echtes Zeichen der Wertschätzung und des guten Miteinanders in Ulm", findet Emmerich, der die Spendensumme auf 600 Euro aufrunden wird und sich darauf freut, viele Nikoläuse bei der Tafel abzuliefern.
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