ulm-news.de

Sparkasse Neu-Ulm - Illertissen 1
Sie sind hier: ulm-news Startseite  Nachrichten

Ulm News, 20.10.2023 11:55

20. Oktober 2023 von Ralf Grimminger
0 Kommentare

Menschenkette, Kleinstadthelden, Lebensstrom und Die lange Kette: Die Menschenkette in Dokumentationen und Romanen


Über die 108 Kilometer lange Menschenkette von Neu-Ulm nach Stuttgart wurde  viel geschrieben. Aktuell beschäftigen sich mehrere Biografien und  Dokumentationen mit der riesigen Veranstaltung mit fast 400 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der deutschen Friedensbewegung am 22. Oktober 1983. Auch in verschiedenen 80er Jahre-Romanen ist die Menschenkette vor 40 Jahren Thema oder Teil der Geschichte. 

Professor Peter Langer aus Ulm, einer der Mitorganisatoren der Menschenkette,  schreibt in seiner Biografie  "Lebensstrom": "Am Nachmittag fand dann auf dem Neu-Ulmer Volksfestplatz – wie auch in Stuttgart – eine sog. „Volksversammlung“ statt. Ca. 130.000 Menschen standen vor der Bühne. Neben Rednern aus der Friedensbewegung traten Künstler*innen auf: so Konstantin Wecker, Bettina Wegener und „Ton, Steine, Scherben“ mit Claudia Roth als deren damalige Tourmanagerin. 
Zu einem legendären Vorfall kam es beim Auftritt von Peter Maffay.
Mitten in „Über sieben Brücken musst du gehen“ wurde nah vor der
Bühne von einigen Jungs ein Transparent hochgehoben mit der
Aufschrift: „Lieber Pershing II als Peter Maffay“. Ich stand auf der Bühne,
mir stockte der Atem, hektisch zog ich an meiner Roth-Händle. Neben
mir stand der großgewachsene Fritz Rau, Veranstalter-Ikone unter
anderem für die Auftritte der Rolling Stones in Deutschland. Er sagte zu
mir in breitestem Kurpfälzisch: „Wenn des Transparent net weg kummt,
trete mei Künschtler hier nimma uff!“. Oh Schreck, oh Graus! Ein weiterer
tiefer Zug aus der Roth-Händle... mit Engelszungen redeten mein
Mitmoderator und ich auf die „Störenfriede“ ein: „Peter ist doch auch ein
Friedensfreund...!“ Schließlich hatten die frechen Jungs ein Einsehen
und das Transparent verschwand. Peter Maffay spielte – entgegen
anderen Behauptungen – unbeirrt weiter, wollte aber noch Jahrzehnte
später an den „Vorfall“ nicht erinnert werden".

Ralf Grimminger beschreibt die Szenerie beim Abschlusskonzert am Ende seines 80er Jahre-Romans "Kleinstadthelden" (Gmeiner Verlag) frei und nicht dokumentarisch wie folgt:
"Plötzlich stoppte die Musik, das Publikum pfiff, und ein schnell sprechender Redner forderte über die Lautsprecher Demonstranten auf, sofort ihre Transparente einzurollen. „Sonst geht Peter von der Bühne“, warnte der Sprecher die Zuhörer, die die Drohung allerdings beklatschten und bejubelten. „Das ist ja Rainer, der kommunistische Radikalenerlass-Lehrer“, rief Klaus überrascht und zeigte auf den aufgeregten Mann mit dem Mikro in der Hand auf der Bühne, der vor einigen Monaten in die große Stadt gezogen war und dort die Menschenkette mitorganisiert hatte.  
Jetzt erst sah Klaus, dass im Publikum Fredo sein Plakat schwenkte. Die Veranstalter fanden den Spruch „Lieber Pershing II als Peter“, den man nicht vollständig lesen konnte, weil das Transparent beschädigt war, nicht lustig. Interessiert beobachtete er das hektische Geschehen auf der Bühne, wo ihm hinter den großen Lautsprecherboxen eine blonde Frau auffiel, die aussah wie Chrissy, das bekannteste Groupie Süddeutschlands. Die Frau umarmte und tröstete den blonden Sänger, der gut einen Kopf kleiner als sie war, obwohl er in Lederstiefeln mit hohen Absätzen steckte. Klaus wollte näher zur Bühne und nahm Marie an der Hand. Zusammen zwängten sie sich durch die Menschenmenge. „Der Sänger mit der Warze ist trotz seiner Stiefel klein, Rio ist schwul, und die singenden Holländer sind Softies und dazu diese furchtbare Sprache. Da ist keiner für sie dabei“, sagte Klaus, als er die Bühne nochmals nach Chrissy absuchte.

. . .  

Nach einem Wechsel der Instrumente sang ein dicker Liedermacher „Ihr habt geschrien, wo alle schwiegen, es geht ums Tun und nicht ums Siegen“ und las danach ein Gedicht vor.

„Ob du sechs bist oder hundert, sei nicht nur erschreckt, verwundert“, sang Marie mit und beide schrien dann:

„Tobe, zürne, misch dich ein: Sage nein!“

„Wunderschön“, sagte Klaus und schaute gebannt zur Bühne, auf der schon die nächste Band loslegte.

„Das weiche Wasser bricht den Stein“, wiederholte Marie lachend den Text. „Ausgerechnet Holländer bringen mit ihren Kampfliedern die deutschen Demonstranten gegen die Raketen auf die Barrikaden“, spottete sie über den Auftritt. Claudi, die Managerin aus Berlin, ist sicher auch hier, dachte Klaus, als die nächste Band Keine Macht für niemand im vielfachen Chor mit den Zuhörern sang.

„Gänsehaut“, rief er, der im Takt mitwippte, die Fäuste in die Höhe hielt und laut und voller Überzeugung mitgrölte. „Die Managerin der Band habe ich in Berlin getroffen.“ Er zeigte zur Bühne.

„Ja, ja. Du hast mir davon erzählt“, sagte Marie. „Claudi ist in der Berliner Szene mittlerweile ziemlich bekannt, sie heißt in den linken Kneipen nur noch ‚Mater Dolorosa‘.“

Und tatsächlich, die Frau mit den roten Haaren rauschte vorbei. Er versuchte, sie zu stupsen, rutschte ab und landete mit der Hand auf ihrer Pobacke, worauf sie sich ruckartig umdrehte und ihn böse anfunkelte. Doch als sie ihn erkannte, fiel sie ihm um den Hals.

„Ein wahnsinniges Erlebnis. Ich bin wahnsinnig beglückt“, schrie sie gegen den Lärm an. „Ich mache jetzt Politik, was wahnsinnig Spaß macht“, plapperte sie, hob die Faust, schmetterte „Keine Macht für niemand“ und tänzelte beseelt weiter durch die Massen.

„Ich will ich sein, anders will ich nicht sein“, sang Marie vor sich hin und schaute zu Klaus, der einfach glücklich war, dass er seine große Liebe im größten Menschenauflauf in Deutschland getroffen hatte. Marie war ihm gegenüber näher und offener, kam es ihm vor, und so deutete er ihre Blicke und ihre Berührungen. Raketen oder Schlagersänger waren ihnen völlig egal, sie feierten ihr Wiedersehen. „Ich habe Hunger“, sagte Marie nach einiger Zeit, worauf Klaus die Nase hob und zur anderen Seite des Platzes wies. Je näher sie den Essensständen kamen, desto verwirrender wurden die Gerüche. Marie zog es ausgerechnet zum Wirsing statt Pershing-Stand.

„Da war ich schon“, sagte er. Doch sie hatte schon eine Portion bestellt. Die dünne Plastikschale knickte an einer Seite ein, sodass etwas Eintopf auf die Straße kippte. Marie stabilisierte die Schale mit der Hand, hielt in der anderen Hand einen Löffel und klemmte ein Stück Brot zwischen Mittel- und Ringfinger.

„Schmeckt’s?“, fragte er skeptisch, als sie sich den ersten Löffel in den Mund schob.

„Die Pampe ist warm und schmeckt nach gesund und bio, das Brot ist aber hart wie Kruppstahl“, sagte sie und rührte lustlos in der zähen Masse. Vorsichtig fischte Klaus mit seinem Löffel ein Stück Gemüse aus der Suppe.

„Ist ja für einen guten Zweck.“

Plötzlich brummelte eine tiefe Stimme von der Seite. „Mit schaf, ohne schaf, mit ohne schaf odder mit alles?“ Es war Achmed, der mit einer älteren Frau in einer dicken bunten Jacke von der Bühne her direkt auf sie zugekommen war. Euphorisch nahm er erst Marie, dann Klaus in den Arm und drückte beide fest an sich. Die Blondine schaute ihm bewundernd zu. „Es gibt überhaupt nichts, wo mehr Erotik ausstrahlt, wie wenn man mit der Sprache gut umgehen tut. Musch gerade du wissen“, sagte Achmed mit gedämpfter Stimme und verdrehte die Augen in Richtung der Frau, die ihn immer noch anhimmelte. Der Asylant mit dem Afrolook aus dem wilden Kurdistan war bester Laune, nahm seine Freundin wieder an der Hand und verabschiedete sich. „Trinkt den Kaffee morgen mit süß“, lachte er, und schon waren beide engumschlungen im Getümmel verschwunden.

Marie schaute den beiden nach und schüttelte den Kopf.

„Woher kennst du ihn?“

„Einer meiner vielen Mitbewohner“, erklärte Klaus und aß weiter. Abwechselnd löffelten sie wie ein eingespieltes Paar die Suppe aus und hörten sich danach wieder die Lieder und Reden im Festzelt an. Dort hörten sie gerade noch den Rest eines Liedes, das von einem Typ mit Hut und in einem dicken Jägermantel mit Pelzkragen geschmettert wurde.

„Wir wollen: Sonne statt Reagan Ohne Rüstung leben! Ob West Ob Ost, kalten Kriegern die Pest“, schrien die begeisterten  Demonstranten mit. „Den kenne ich doch auch“, sagte Klaus verwundert, kam aber nicht darauf, woher. „Ich glaube, aus Berlin“.

„Da kann ich dir nicht helfen“, sagte Marie. „Los, lass uns gehen.“

Denn die Veranstaltung, bei der insgesamt bis zu 400.000 Menschen gegen die Stationierung der Pershing-Raketen mit ihren Atomsprengköpfen demonstriert hatten, ging zu Ende".

"Die lange Kette". Das ist der Titel der Dokumenation des Neu-Ulmer Stadtarchivs von Beate Storz, die am 30. Oktober erscheint. Das Buch gibt einen neuen Blick auf die Menschenkette von Neu-Ulm nach Stuttgart-Vaihingen, als am 22. Oktober 1983 hunterttausende Menschen händereichend gegen die Stationierung von Pershing II-Atomraketen demonstrierten.

"Menschenkette" ist der Titel des Romans von Cäcilie Kowald (8Grad Verlag) . Darum geht es:  "Am 22. Oktober 1983 protestieren mehrere Hunderttausend Menschen gegen die geplante Stationierung von Atomraketen in Süddeutschland. Mit ihnen machen sich auch Oliver, Marlene, Ulrike, Wilfried, Franzi und Ines auf den Weg, denn: Die Welt muss gerettet werden vor dem Atomkrieg. Doch was von außen aussieht wie eine einzige große Bewegung, ist ein Gemisch aus unterschiedlichsten Motivationen und Überzeugungen, die umso heftiger aufeinanderprallen, als alle nur das Beste wollen. »Wer die Hoffnung aufgibt, hat schon verloren. Das gilt für Menschenketten genauso wie für den Weltfrieden."



Sparkasse NU

Termine & Kino

weitere Termine
Sparkasse Neu-Ulm - Illertissen 1
Apr 22

Unvergessliche Ferien in Südtirol: Die schönsten Aktivitäten und Sehenswürdigkeiten
Südtirol ist nicht nur im Winter ein traumhaftes Reiseziel. Gerade im Sommer blüht die Region förmlich...weiterlesen


Apr 22

Sportprominenz beim Spatzen-Sieg im Donaustadion
Den 1:0-Sieg des SSV Ulm haben am Sonntagabend einige Prominente live im Donaustadion mitverfolgt. Ob sie...weiterlesen


Apr 13

Frontal gegen Baum: 21-jähriger kommt bei Unfall ums Leben
Ein 21-jähriger Autofahrer ist am Samstagmorgen bei einem Unfall bei Amstetten ums Leben gekommen....weiterlesen


Apr 15

Frau lässt Mann nackt und ohne Wertsachen zurück
 Ein Mann stand am Samstag in Göppingen  ziemlich blank und ohne Wertsachen da. Der Grund war eine...weiterlesen


Apr 20

Mit Pkw frontal gegen Lkw: 28-Jähriger stirbt nach Unfall auf B 30
 Tödliche Verletzungen hat sich ein 28-jähriger Mann bei einem Verkehrsunfall am Samstag auf der B 30...weiterlesen


Apr 15

Zeitungsausträger findet Kleinkind auf Straße
Ein 29-jähriger Zeitungsausträger staunte am frühen Samstagmorgen nicht schlecht, als er gegen 03.50...weiterlesen


Apr 22

Bankmitarbeiterin verhindert Betrug an Seniorin
Eine aufmerksame Bankmitarbeiterin hat vor Ostern den Betrug über einen sogenannten Schockanruf vereitelt...weiterlesen


Apr 15

Motorradfahrer Vorfahrt genommen und schwer verletzt
Schwer verletzt wurde eine 23-jährige Sozia bei einem Verkehrsunfall am Sonntagnachmittag bei Neuhausen...weiterlesen



Sparkasse Neu-Ulm - Illertissen 1

 
© ulm-news.de, Nachrichten für Ulm und Umgebung   KONTAKT | FAQ | IMPRESSUM | DATENSCHUTZ | Cookie Einstellungen anpassen nach oben