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Ulm News, 28.06.2015 20:41

28. June 2015 von Thomas Kießling
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Bundespräsident Joachim Gauck: Wissen und Wissenserweiterung sind eine der größten Ressourcen der Freiheit


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 Bundespräsident Joachim Gauck sprach im Rahmen der Eröffnung der 65. Nobelpreisträgertagung am Sonntag vor 65 Laureaten. An der Eröffnung nahmen auch die Minister Alexander Dobrindt, Gerd Müller und Staatsministerin Beate Merk teil. Die Tagung ist in diesem Jahr allen drei naturwissenschaftlichen Nobelpreis-Disziplinen zugleich gewidmet: Medizin, Physik und Chemie. Zu der berühmten Tagung sind auch die Ulmer Nachwuchswissenschaftler Julia Kielwein und Dominik Hotter eingeladen. Nachfolgend die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck im Wortlaut. 

„Was für ein schönes Gefühl, in diesen Saal zu blicken. Menschen aus aller Welt haben sich zusammengefunden, um in den kommenden Tagen etwas Kostbares miteinander zu teilen: ihr Wissen, ihre Forschungsthemen, ja ihre Brillanz. Vielleicht wird hier eine Idee geboren, die morgen unser aller Leben verändert. Es ist mir eine große Freude, dass Sie mich zur Eröffnung der 65. Nobelpreisträgertagung eingeladen haben! Eine solche Weltkonferenz in Deutschland erleben zu können, löst in mir auch Dankbarkeit aus. Dieser Ort hat Symbolkraft. Im Vergleich zu 1951, als die erste Tagung hier in Lindau stattfand, ist Deutschland, ist auch die deutsche Wissenschaft seit langem nicht mehr isoliert. Unser Land hat etwas zurückgewonnen, das für viele nach dem Zweiten Weltkrieg schwer vorstellbar war: internationale Anerkennung, Freunde und Partner für den intensiven Austausch. Kurzum: Vertrauen. Heute möchte ich gern daran erinnern, wer damals zu den ersten gehörte, die der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft die Hand reichten. Es war – liebe Gräfin – Ihr Vater Graf Lennart Bernadotte, der seine engen Beziehungen zum schwedischen Königshaus einbrachte und vor allem couragiert genug war, das Wagnis als ""Ehrenprotektor"" einzugehen.
Viele weitere Förderer und Partner der Nobelpreisträgertagungen schlossen sich ihm in den folgenden Jahrzehnten an: Persönlichkeiten und Institutionen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, aus dem In- und Ausland. Die Liste würde ein ganzes Buch füllen. Ihnen allen, ob Sie das Lindauer Projekt finanziell oder ideell unterstützt haben, danke ich sehr herzlich! Und mein Dank gilt natürlich auch den Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträgern, die ihre Zeit und ihre Expertise pro bono zur Verfügung stellen, um junge, exzellente Nachwuchswissenschaftler an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. Geschätzte Laureaten, Ihr Einsatz ist in jeder Hinsicht unbezahlbar! Wer sich das dichte Programm für die nächsten fünf Tage anschaut, der wird vieles darin finden: Themen, die in der Chemie, Physik, Physiologie oder Medizin derzeit hochaktuell sind, und auch interdisziplinäre Fragen, die zu den größten der Menschheit gehören, etwa die Bekämpfung des Hungers auf der Welt oder die Reaktionen auf die Klimaerwärmung. Einer der großen Vorzüge dieser Konferenz ist dieser fächerübergreifende Austausch. Nicht nur staatliche Grenzen werden so überwunden, auch mentale. Jede Wissenschaft hat bekanntlich ihre eigene Sprache, ihre eigenen Denkgebäude. Die Realität, für die wir nach Lösungen suchen, ist jedoch ein komplexes Ganzes. Seit langem wissen wir, dass die Konsequenzen von Erfindungen und Entdeckungen manchmal weitreichend und schwer kalkulierbar sind. Schon Alfred Nobel hat bei seiner berühmtesten Erfindung nicht vorhergesehen, dass sie einmal massenweise kriegerischen Zwecken dienen würde. Auch heute ist nicht immer sofort abschätzbar, welche Neuerung der Menschheit zum Segen gereichen wird und welche sich mit großen Risiken verbindet. Das macht internationale Konferenzen wie diese so wertvoll. Die Wissenschaft braucht kritischen Austausch und so oft wie möglich grenzüberschreitende Kooperation – nicht zuletzt aus Gründen der Forschungsfinanzierung. Herausragende Vorhaben wie das CERN mit dem europäischen Teilchenbeschleuniger oder die Internationale Raumstation wurden ja auf diese Weise überhaupt erst möglich. Wo immer ich kann, werde ich solche Formen der Zusammenarbeit unterstütze n.
Ich weiß natürlich, meine Damen und Herren hier im Saal: Gerade Sie denken in großen Zusammenhängen. Gerade Sie überwinden Grenzen! 51 von Ihnen haben durch Ihre engagierte Arbeit schon erreicht, was Alfred Nobel einst ""den größten Nutzen"" für die Menschheit nannte. Und hunderte andere, gerade auch junge Forscherinnen und Forscher möchten es Ihnen gleich tun. Sie, liebes Publikum, sind der Inbegriff des Überraschenden, das Wissenschaft zu leisten vermag. Und auch all der Hoffnungen, die sich mit ihr verbinden.
Wie oft hat die Forschung schon existentielle Probleme überwunden, hat Millionen, ja Milliarden Menschen zu einem besseren Leben verholfen. Wir haben guten Grund, optimistisch zu sein, dass Wissenschaft auch künftig Probleme lösen wird, dass sie Fortschritt durch Innovation erreicht, dass sie Fehler der Vergangenheit zumindest teilweise kompensieren kann. Das enorme Potential Ihrer Arbeit steht für mich außer Frage. Und doch wissen wir, dass Wissenschaft nicht nur Treiber des Fortschritts, nicht nur Lösung oder Korrektiv ist. Manchmal werden Ergebnisse der Wissenschaft auch selbst zur offenen Frage, zum Problem. Sie, liebe Gäste, erleben das in Ihrer täglichen Theorie und Praxis. Auch preisgekrönte internationale Verbundforschung kommt schnell an den Punkt, an dem Zahlen und Fakten nicht mehr ausreichen, um das eigene Tun zu rechtfertigen. In der Grundlagenforschung und insbesondere in den Anwendungsgebieten sind Menschen tätig, die oftmals für andere Menschen, ja die Menschheit, Weichenstellungen bewerkstelligen, die von existentieller Bedeutung sind. Wer in derartigen Situationen ohne die Bezugnahme auf moralische Kategorien agiert, der handelt unangemessen, ja leichtfertig. Diese Problematik wird auch bei der diesjährigen Tagung aufgegriffen. Die französischen Partner haben das morgige Arbeitsfrühstück mit den Worten ""Wissenschaft und Ethik"" überschrieben.
Etliche Impulsvorträge berühren ebenfalls moralische und soziale Fragen, manchmal schon in der Überschrift, hier zum Beispiel: ""Die Revolution der personalisierten Medizin: Werden wir alle Krankheiten heilen und zu welchem Preis?"" Ich kann und will die Debatten der Konferenz selbstverständlich nicht vorwegnehmen, aber ich möchte gern ein Motiv nennen, das für mich bei solchen Themen zentral ist: die Würde des Menschen. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, verabschiedet 1949, steht in Artikel 1 geschrieben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ An diesen Satz musste ich denken, als ich jüngst Zeitungsberichte über Genveränderungen an embryonalen Stammzellen las. Was bedeutet es für die Menschenwürde, wenn menschliches Erbgut verändert wird – und sei es mit bester Absicht zur Verhinderung bestimmter Krankheiten? Und was bedeutet das Streben nach genetischer Perfektion für die Würde der anderen, die nicht perfekt sind – also für uns alle? Jede technologische Möglichkeit wirft neue Fragen und Konflikte auf. Eltern von Kindern mit Downsyndrom erzählen mir, dass ihnen auf dem Spielplatz Mitgefühl ausgesprochen wird, weil sie die Fruchtwasseruntersuchung wohl verpasst hätten. Und wie bewundernswert es doch sei, dass sie ""trotz allem"" so gut mit der Situation klarkämen.
Erleben wir da eine schleichende Veränderung unserer gesellschaftlichen Leitbilder – angetrieben vom wissenschaftlichen Fortschritt, scheinbar gerechtfertigt durch ökonomische Sparzwänge und moralisch bemäntelt durch die Berufung auf Mitl e id und Leidensvermeidung? Und welche Folgen hätte ein solcher Mentalitätswandel für die Akzeptanz von kranken, alten und behinderten Menschen? Wo genau liegt die Grenze zwischen Machbarkeit und Wünschbarkeit? Wo die Ultima Ratio? Vor allem: Wer führt diese schwierige Debatte? Und reicht es, wenn sie nur in Ethikkommissionen, in Parlamenten oder in anspruchsvollen Zeitungen dann und wann aufscheint? Sie sollte breiter vorangetrieben werden. Es geht hier um nichts Geringeres als unser Menschenbild. Wie wollen wir morgen leben? Wer wollen wir morgen sein? Und nach welchen Maßstäben wollen wir beides beurteilen? Solche Fragen brauchen Entfaltungsräume in der Gesellschaft. Wir brauchen Diskurse und Vereinbarungen, die über die Wissenschaftsgemeinschaft deutlich hinausgehen. Wissenschaft kann und soll ihre große Verantwortung nicht allein tragen. Was wir brauchen, ist eine kritische Öffentlichkeit. Und zwar nicht mit einer gelegentlichen, sondern mit einer beständigen, intensiven Beteiligung der Wissenschaftler. Leider sind wir von einer wirklich breiten Debatte noch entfernt. Viele Zeitgenossen blenden die existentiellen Fragen aus oder verweisen sie weit, weit in die Zukunft.
Die Filme von ""Star Wars"" sind den meisten vertrauter als der tatsächliche Forschungsstand zum Universum oder die rasanten Entwicklungen bei der Künstlichen Intelligenz. Immerhin, Stephen Hawkings hat es mit seinem Londoner Weckruf kürzlich bis in diverse Fachmagazine, Feuilletons und Online-Foren geschafft. Sein Szenario von den Robotern, die innerhalb der nächsten 100 Jahre so intelligent werden, dass sie die Menschen überholen und die Herrschaft übernehmen könnten, war eine wohl kalkulierte Provokation. Eine Provokation, die wir offenbar nötig hatten. Die öffentliche Wahrnehmung scheint doch regelrecht festgefroren zu sein. Oder sie kreist angstgetrieben immer wieder um Phänomene wie Genmais. Oft werden große Herausforderungen und bedeutende Fragestellungen, an deren Beantwortung nicht weniger hängt als unsere Lebensgrundlage, auf einer mangelhaften Wissensbasis und unter eingeschränkter Einbeziehung der Fachwissenschaft debattiert. So entsteht dann häufig mehr Erregung als Aufklärung. Um ein neues öffentliches Bewusstsein zu fördern, brauchen wir offenbar weit mehr solche internationalen und interdisziplinären Foren wie hier in Lindau. Und noch weitere Brückenschläge. Physik oder Biochemie profitieren vom Gespräch mit Philosophie und Politikwissenschaft. Genauso wie Medizin die beständige Bezogenheit auf die Ethik braucht.
Deshalb möchte ich Sie, meine Damen und Herren, darin bestärken, den Geist der Interdisziplinarität, den Geist von Lindau mit an Ihre Schreibtische, mit in Ihre Seminarsäle und Labore zu nehmen.
Lassen Sie mich noch einen Blick auf ein – meiner Ansicht nach – spezielles Problem alternder Gesellschaften werfen. Häufig sind hier gesellschaftliche Leitdebatten fast reflexhaft von Kulturkritik und diffusen Zukunftsängsten geprägt. Die menschliche Innovationsfähigkeit, die zu den größten Talenten der Menschheit gehört, wird unterbewertet. Zwar muss sie beständig von Selbstreflexion begleitet sein. Aber wir wissen: Innovation ist die Chance, zukunftssichernde Entwicklungen hervorzubringen und gleichzeitig Fehler der Vergangenheit auszugleichen. Innovation verlangt uns immer auch eine gewisse Risikobereitschaft ab. Wer alles erst komplett durchkalkuliert sehen möchte, bevor er eine Idee in die Praxis umsetzt, der wird kaum bestehen. Das Internet ist dafür ein sehr plastisches Beispiel. Wir nutzen es seit Jahren, ohne genau absehen zu können, wohin uns die digitale Revolution noch führt. Weil wir darauf vertrauen, dass es uns gelingen wird, die Risiken beherrschbar zu halten und zugleich die Chancen auszuschöpfen. Gerade für die Wissenschaft sind die Vorteile des Internets ja evident. Dem uralten Drang der Forschung nach Vernetzung hat sich durch Online-Plattformen und weltweite Echtzeitkommunikation eine völlig neue Arbeitsqualität eröffnet. Das kommt auch großen Teilen der Bevölkerung zugute.
Nie zuvor standen die geistigen Schätze der Welt so vielen Menschen offen.
Nie zuvor war es so leicht, mit einem einzigen Aufruf – per Mausklick –, Mitstreiter für ein Projekt zu mobilisieren.
Ich schweige hier über gefährliche, geschmacklose oder menschenfeindliche Missbräuche – über die ich durchaus, wenn auch nicht aus diesem Anlass, sprechen könnte. Eines möchte ich an dieser Stelle aber betonen: Die persönliche Begegnung, das Mitmenschliche lässt sich nicht beliebig durch Technik ersetzen. Die Lindauer Tagungen sind nach 65 Jahren auch deshalb weiterhin so attraktiv, weil hier etwas stattfindet, was am besten von Mensch zu Mensch funktioniert: Inspiration! Eine E-Mail erleichtert unendlich, aber sie kann nicht das persönliche Gespräch ersetzen, das eine Nobelpreisträgerin mit einer Studentin führt, um sie zu ermutigen, ihren Blick zu weiten, einer neuen Spur zu folgen und ihren Weg zu gehen. Inspiration entsteht in gewisser Weise auch als interdisziplinärer Akt, als Produkt von Hirn und Herz, als Brücke zwischen dem, was wir erleben, und dem, was wir zu träumen wagen. Es zeichnet uns Menschen aus, dass wir uns zu inspirieren vermögen und dass wir fähig sind, Verantwortung zu übernehmen. Liebe Nachwuchswissenschaftler, in diesem Sinne sollten Sie alles daran setzen, dass Ihre Forschungen hohen ethischen Ansprüchen gerecht werden. Dazu brauchen Sie den offenen, möglichst internationalen Meinungsaustausch. Vor allem brauchen Sie die feste Überzeugung, dass Wissen und Wissenserweiterung eine der größten Ressourcen der Freiheit sind, vielleicht sogar die größte. Wissen ermächtigt Menschen, nicht mehr ängstlich, nicht mehr abhängig, nicht mehr Untertanen oder Ergebene ihres Schicksals zu sein. Ein großes Vermächtnis von Alfred Nobel ist die Erkenntnis: Der Nutzen der Wissenschaft wird nicht nur für die Menschen auf den Weg gebracht. Er wird auch von Menschen errungen. Ich wünsche Ihnen eine Tagung ganz in diesem Geiste.“



Veranstaltung(en) zu diesem Bericht

28.06.2015 : 15: Uhr

65. Lindauer Nobelpreisträgertagung



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