Ulm News, 02.07.2013 11:32
Vom Werdegang eines Kristalldefekts: Forscher studieren „Lebenszyklus“ von Versetzungen
Wissenschaftler der Universität Ulm haben erstmals das „Geheimnis des Lebens“ von „Versetzungen“ nachvollzogen. Dabei handelt es sich um eindimensionale, linienhafte Defekte in Kristallen. Gemeinsam mit finnischen Kollegen konnten sie die Entwicklung von Versetzungen Atom für Atom von der „Geburt“ bis zum Verschwinden im transmissionselektronenmikroskopischen Experiment beobachten. Die Forscher um Professorin Ute Kaiser, Leiterin der Ulmer Arbeitsgruppe Materialwissenschaftliche Elektronenmikroskopie, haben ihre Ergebnisse in der renommierten Zeitschrift Nature Communications veröffentlicht.
Wie Versetzungen entstehen und wieder verschwinden, war auf atomarer Ebene bisher völlig ungeklärt. Dabei haben die Kristalldefekte für die Materialwissenschaft fundamentale Bedeutung: „Sie sind für die gesamte plastische Verformung kristalliner Materialien verantwortlich. Gäbe es keine Versetzungen, wären alle Kristalle spröde und zerbrechlich wie Glas. Unvorstellbar für die gesamte metallverarbeitende Industrie!“, erklärt Ute Kaiser. Auch für die Mikroelektronik ist ein genaues Verständnis von Versetzungen wichtig: Die Kristalldefekte können nämlich die Funktion von Halbleiterbauelementen stören. Dank einiger „Kniffe“ sind die Wissenschaftler um Ute Kaiser nun also in der Lage, die Entwicklung der Kristalldefekte bis zu ihrem Verschwinden zu studieren. Sie untersuchen Versetzungen nämlich nicht im normalen dreidimensionalen Kristall, sondern im zweidimensionalen Graphen. Dieser Kristall ist nur ein Atom dick und verfügt dennoch oder gerade deshalb über viele ganz erstaunliche Eigenschaften, auch bezüglich seines mechanischen Verhaltens. Im zweidimensionalen Graphen funktioniert die atomgenaue Abbildung der Dynamik hervorragend – vorausgesetzt die Forscher wenden einen weiteren Trick an: Mit einem Elektronenstrahl leiten sie die plastische Deformation im Graphen ein und nutzen dann denselben Strahl, um das Geschehen Atom für Atom abzubilden. „Wird der Elektronenstrahl auf eine Fläche von wenigen Quadratnanometern fokussiert, entspricht das in etwa der Strahlbelastung einer nuklearen Detonation“, weiß Dr. Ossi Lehtinen.
Technisch möglich sind derartige Forschungen durch den Einzug der Aberrationskorrektur in die Elektronenmikroskopie. In der Anwendung dieser neuen Technik ist die Universität Ulm bereits seit 2005 unter den Pionieren: Damals erhielt die Uni eines der ersten kommerziell ausgelieferten Transmissionselektronenmikroskope weltweit. Im Projekt SALVE (sub-Angström Low Voltage Electron microscopy) entwickelt das Team um Professorin Ute Kaiser jetzt ein hochauflösendes, aberrationskorrigierten Niederspannungs-Transmissionselektronenmikroskop, mit dem die Abbildung von atomaren Strukturen auch in strahlenempfindlichen Materialien schon bald Realität werden könnte.
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